Stoltzenberg-Skandal 1979 in Hamburg: Junge stirbt bei Explosion - Nervengas hätte Tausende töten können (2024)

Stand: 06.09.2024 13:40 Uhr

Gefährliche Substanzen lagen frei auf dem alten Gelände der Firma Stoltzenberg herum. Eine Explosion tötete am 6. September 1979 ein Kind. Der Vorfall deckte den bisher größten Giftskandal in Hamburg auf.

von Jochen Lambernd

Im Keller des Hauses am Lüdersring 137 in Hamburg-Lurup hantieren am 6. September 1979 der elfjährige Oliver, sein 13 Jahre alter Bruder Thomas und ihr Freund Stephan mit Chemikalien. Plötzlich explodiert ihr Gemisch. Die Detonation ist gewaltig und noch mehrere Straßen weiter zu hören, das Gebäude bebt, Türen werden aus den Angeln gerissen. Oliver stirbt, die beiden anderen Jungen werden schwer verletzt.

Verwahrlostes Firmengelände war ungesichert

Die Substanzen, mit denen die Kinder experimentiert haben, stammen vom nahegelegenen Gelände der Chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg (CFS) im angrenzenden Stadtteil Eidelstedt. Firmengründer Hugo Gustav Adolf Stoltzenberg hatte sich bereits während des Ersten Weltkriegs umfangreiche Kenntnisse über chemische Kampfstoffe angeeignet.

Wie sich herausstellt, sind die Jungen tags zuvor auf das ungesicherte und verwahrloste Firmengelände durch einen löchrigen Zaun geschlichen. Dort konnten sie ungestört zwischen einem Durcheinander von Kisten, Fässern und Tanks spielen. Und sie konnten ein paar Fundstücke von dem Areal der Fabrik mit nach Hause nehmen.

Kampfmittel und Giftstoffe liegen einfach herum

Mit Atemschutzmaske ist dieser Feuerwehrmann 1979 auf dem Stoltzenberg-Gelände im Einsatz.

Als sich Polizeibeamte auf dem Gelände umsehen, erkennen sie schnell, dass sie Unterstützung benötigen. Eilig rücken weitere Polizeieinheiten, Feuerwehr sowie der Räumdienst der Bundeswehr an. Das Gelände wird abgeschirmt. Die Experten trauen ihren Augen nicht: Munition, tonnenweise Phospor, Sprengstoff und Giftgas. Viele Stoffe sind hochgefährlich, einige auch tödlich. Unter anderem entdecken die Fachleute mehrere Tabun-Granaten. Ihr Nervengas hätte ausgereicht, um Tausende Menschen zu töten "und damit den gesamten Hamburger Westen auszulöschen", heißt es 2014 in "Hamburg damals" im NDR Fernsehen.

Der Stadtteil Eidelstedt wird für mehrere Tage evakuiert. Nur zum Schlafen dürfen die Bewohner in ihre Häuser. Tagsüber werden die Menschen in einer Notunterkunft versorgt. Eine Anwohnerin sagt damals: "Das ist wie ein Kriegszustand."

Weiterer Stoltzenberg-Skandal bereits 1928

Die Explosion 1979 ist nicht der erste Skandal um die 1923 gegründete CFS. Bereits 1928 sind auf dem Firmengelände große Mengen Phosgen - ein sehr giftiges Gas, das aus Kohlenmonoxid und Chlor hergestellt wird - ausgetreten, was zu einer Giftgaswolke über Hamburg führte. Mindestens zehn Menschen sterben damals, 300 wérden verletzt. Konsequenzen für Stoltzenberg hat das Unglück nicht. Im Zweiten Weltkrieg liefert CFS auch Gasmasken und andere Geräte für den Gasschutz. Für Täuschungsmanöver bei Luftangriffen stellt die Firma unter anderem Nebelkerzen und -fässer her.

Zustände auf Gelände schon sehr lange schlecht

Nach 1945 verlagert die CFS ihren Schwerpunkt vor allem auf Schädlingsbekämpfungsmittel. Geld verdient Stoltzenberg aber auch mit dem Einsammmeln von zurückgebliebenen Nebelfässern, wie der Autor Henning Schweer in seinem Buch "Die Geschichte der Chemischen Fabrik Stoltzenberg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs" schreibt. Die Stoffe daraus werden an die Industrie verkauft.

Laut Schweer scheinen die Zustände auf dem Firmengelände schon damals "nicht besonders gut gewesen zu sein". Laut Gesundheitsamt Altona ist der Betrieb "wenig gepflegt und behelfsmäßig". Auf dem Areal stapeln sich Restbestände von Munition und Kampfstoffen aus dem Krieg. In den 1950er- und -60er-Jahren, in denen CFS unter anderem Aufträge von der Bundeswehr bekommt, gibt es Konflikte mit den Behörden und Beschwerden von Anwohnenden. Schlechte Absicherung des Geländes gegen den Zutritt von Unbefugten und schlechte Lagerbedingungen werden damals ebenfalls schon gerügt.

Am 1. Januar 1969 übernimmt Martin Leuschnerdie Firma, Unternehmensgründer Stoltzenberg stirbt 1974. Offiziell stellt CFS zuletzt nur noch Brom und Aceton her. Für andere Stoffe gibt es keine Produktionsgenehmigungen mehr. Sicherheitsmaßnahmen werden offenbar weiter nicht oder nur unzureichend eingehalten.

Jahrelang an Katastrophe vorbeigeschrammt

Die FDP-Landesvorsitzende Schuchardt nennt den Vorfall "unglaublich".

Die Explosion erschüttert auch das politische Hamburg. Die ehemalige FDP-Bürgerschaftsabgeordnete Helga Schuchardt sagt dem NDR 2014: "Was da passiert ist, (...), das ist an Skandal gar nicht zu überbieten. Unglaublich." Das Gelände der Firma Stoltzenberg ist in Eidelstedt seit vielen Jahren bekannt. Doch wie gefährlich es dort ist, ahnen die Menschen nicht. Schon viele Kinder sind in der Vergangenheit auf dem Gelände gewesen. Die Gegend ist jahrelang an einer Katastrophe vorbeigeschrammt. Wer trägt die Schuld an dem Skandal? Der letzte Besitzer des Geländes, Martin Leuschner, wird nicht angeklagt, weil er zu krank und nicht verhandlungsfähig ist.

Bürgermeister Klose feuert Justizsenator Dahrendorf

Der Stoltzenberg-Skandal bringt Bürgermeister Klose in Bedrängnis.

Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) gerät in die Schusslinie. Unter Druck entlässt er seinen Justizsenator Frank Dahrendorf - ein Bauernopfer, wie viele sagen. Die Kritik bleibt. Denn jahrelang haben Behördenmitarbeiter das Gelände regelmäßig untersucht. Hinweise und Beschwerden von Anwohnern hat es außerdem gegeben. Warum sind die Missstände nicht abgestellt worden? Mängellisten wurden offenbar nicht abgearbeitet. Der "Spiegel" zitiert 1979 Peter Rabels, der als Staatsrat der Justiz- und Umweltbehörde die Untersuchungen zu dem Vorfall leitet, mit den Worten, dass die Firma ein "in gewisser Weise unentbehrlicher Betrieb" gewesen sei.

"Man hätte es sehr viel intensiver verfolgen müssen: Wer war zuständig?", so Helga Schuchardt. Dem NDR sagt Bürgermeister Klose damals etwas schwammig: "Es besteht eine Gesamtverantwortung, ohne dass gesagt werden könnte, der eine sei verantwortlicher als der andere." Vor dem eingesetzten Parlamentarischen Untersuchungssausschuss sagt Dahrendorf über CFS: "Ein kleiner, unordentlicher Waschküchenbetrieb, ja, das war es ganz sicher immer, aber eine nicht ausreichend gesicherte und verwahrloste Lagerstätte gefährlicher Materialien, das ist jedenfalls 1970/71 niemandem aufgefallen." Die Zeitung "Welt" schreibt 2009 von einer "Mischung aus Zuständigkeitswirrwarr, Kompetenzstreitereien, bürokratischer Sturheit und simpler Behördenschlamperei". Der Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses deckt viele Verstöße auf, laut "Welt" verweist er "auf schwere organisatorische Mängel, auf unzureichende Gesetzeskenntnis, fehlendes Bewusstsein einer Gesamtverantwortung und ähnliche Defizite". Doch Konsequenzen hat der Bericht nicht. Der Bürgermeister bleibt im Amt.

Verfahren gegen Vater des getöteten Jungen eingestellt

Vor Gericht soll aber ein anderer: der Vater des getöteten Jungen. Als Folge vernachlässigter Aufsichtspflicht soll er wegen fahrlässiger Körperverletzung und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion zur Rechenschaft gezogen werden. Die Hamburger Bevölkerung ist empört. Letztlich stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein.

Sanierung kostet mehrere Millionen D-Mark

Möglicherweise habe der Stoltzenberg-Skandal dazu beigetragen, dass sich die Grünen stärker etablieren konnten und dass vielerorts Umweltminister - oder -senatoren eingeführt wurden, so die ehemalige Abgeordnete Schuchardt. Infolge des Vorfalls wird die erst im Jahr zuvor gegründete Umweltbehörde der Stadt mit mehr Personal und Laboren ausgestattet. Die Umweltpolitik erhält einen höheren Stellenwert.

Das verseuchte Gelände wird von der Stadt übernommen und für mehrere Millionen D-Mark saniert, der Boden mehr als zweieinhalb Meter abgetragen. So verschwinden die letzten Spuren des Giftskandals von Eidelstedt. Und die Erkenntnis bleibt: Das Unglück hätte verhindert werden können.

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Hamburg Journal |31.08.2014 | 19:30 Uhr

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